Doris Lerche 

 

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Mutterkind

 
Wenn Anja sich dem Gartentor nähert, hört sie schon den Lärm. Wildes Geknatter, wüstes Geschrei. Die Mutter sieht fern.
Den ganzen Tag sitzt sie im Sessel, ein Heizkissen auf dem Leib, den Fernseher auf höchster Lautstärke, und schaut sich das Leben an.
„Kind,“ sie reckt die Hand nach Anja aus, „gut, dass du da bist. Ich konnte nicht schlafen. Ich dachte, der Mörder hat dich ins Gebüsch gezerrt.“
„Aber Mama,“ Anja holt den Hocker aus der Küche und trägt ihn ins Bad, „ich bin kein kleines Mädchen wie in deinem Krimi. Ich bin sechsundfünfzig.“
„So alt bist du schon?“
„Komm, ich wasch dir die Haare.“
Die Mutter drückt sich mit beiden Fäusten vom Sessel ab, fällt atemlos lachend zurück. Anja reicht ihr den gewinkelten Arm, die Mutter klammert sich fest, erhebt sich mit einem Ruck.
Der Badezimmerspiegel wirft ihr ein fremdes Gesicht entgegen. “Ich sehe ja furchtbar aus. Wie eine alte Frau.“
Anja hat sich längst an die Mutter mit den Zahnlücken gewöhnt. Dennoch hat sie sorgfältig alle herausgefallenen Kronen in einer Schmuckschatulle gesammelt.
„Lass uns endlich zum Zahnarzt gehen.“
„Ach, das lohnt sich nicht mehr.“ Die Mutter umfasst das Waschbecken und neigt sich nach vorne. Anja öffnet den Hahn und prüft mit der Hand die Wassertemperatur, ehe sie den Schwenkarm über den Kopf ihrer Mutter dreht. Vorsichtig läßt sie das Wasser über den dünnen Haarflaum rieseln.
Nun, da die Mutter ihre Augen fest zusammengekniffen hält und alle Sinne auf ihr Haar konzentriert, hat sie ihr Spiegelbild mit den Zahnlücken vergessen. Anja spürt die zarte Kopfhaut unter ihren Fingern. „Lass uns zum Friseur gehen, Mama. Der bringt deine flusigen Haare in Form.“
„Ich will nicht zum Friseur.“
 
Wie einfach plötzlich alles ist.
 
Ein Leben lang hat Anja gekämpft. Wollte herausfinden, wer diese Frau war. Wollte ihre Knochen spüren. Aber die Mutter hielt sich lächelnd die Tochter vom Leib, die Welt vom Leib, das Leben vom Leib, wollte nicht erspürt, nicht gesehen, nicht ertappt werden.
Anja setzte ihr nach. Fand nichts. Nur ein Lächeln aus Watte.
 
„Gut. Kein Friseur,“ sagt Anja.“Aber dann zieh dir wenigstens mal was Hübsches an. Tagelang läufst du in Nachthemd und Morgenrock herum.“
„Das ist so schön bequem,“ sagt die Mutter ins Spülbecken hinein, während Anja das Shampoo aufschäumen läßt. „Mir passt nichts mehr. Ich bin so dick geworden.“
„Dann kaufen wir dir neue Sachen.“
„Aber das lohnt sich doch nicht mehr.“
„Mama, so ein Quatsch. Vielleicht lebst du noch zwanzig Jahre.“
 
Das also ist ihre Mutter. Das will sie. Das will sie nicht.
Wieviel vergebliche Kraft hat es Anja gekostet, sie zu suchen hinter diesem schwebenden Lächeln, das die Seitensprünge des Ehemans und die Scheidung unversehrt überstanden hatte.
Nur zufällig erfuhr die Mutter von ihrem hohen Blutdruck. Das Messgerät, das Anja ihr besorgte, vergrub sie tief in ihrem Kleiderschrank.
 
Dann kam der Schlaganfall. Sie redete, vergaß, was sie sagen wollte, begann bestürzt von neuem, verstrickte sich in einem Dickicht von abgerissenen Sätzen.
Obwohl ihre plötzliche Behinderung schreiend offensichtlich war, versuchte sie panisch, den Schein zu retten. Wenn Anja sie ermunterte, auszudrücken, was sie wollte, verlor sie den Faden, weil sie sich durch den Blick der Tochter belauert, kritisiert, unter Druck gesetzt fühlte. Wenn Anja beiseite schaute, damit die Mutter in Ruhe überlegen konnte, verlor sie den Faden, weil sie glaubte, die Tochter langweilte sich bei ihren Worten. Anja zog sich zusammen vor zorniger Selbstbeherrschung. Aber was hatte das für einen Sinn, die Mutter zu tadeln, die, ein verstörtes Menschenkind, vergeblich versuchte, die Worte, die ihr entglitten, festzuhalten?
 
Nachdem der erste Schock vorüber war, enwickelte die Mutter Tricks, damit ihre Behinderung nicht auffallen sollte: sie versuchte nicht mehr, sich mitzuteilen, sondern stellte artige Fragen. Doch nach einer Weile kamen dieselben Fragen von neuem, als könnte ihr Hirn das Hin-und-Her von Frage und Antwort nur für einen kurzen Moment halten, um dann den gesamten Dialog vollkommen zu löschen.
Anja bemühte sich um Nachsicht. Aber ihre Gereiztheit steigerte sich von Tag zu Tag. Schließlich begann sie der Mutter bei jedem Wort über den Mund zu fahren. „Mama, das hast du mich heute schon zehnmal gefragt.“
„Ist das wahr?“ Entsetzt begriff die Mutter, dass nichts mehr zu verbergen war. Dass all ihre luftigen Bollwerke gegen das Leben zusammengekracht waren. Plötzlich lag ihre Seele bloß wie das Geflecht ihrer Krampfadern unter der Haut ihrer Waden. Wie ihre Altersflecken auf den Handrücken. Wie ihr Schädel, der durch den dünnen Haarflaum schimmerte.
Da gab sie auf.
 
Anja, die zunächst nur mit größtem Widerwillen ihre kranke Mutter besucht hatte, ihr nur mit Abscheu einmal die Woche die Haare wusch, die Fußnägel schnitt oder, wenn die Pflegerin verhindert war, voller Ekel die urinbesudelte Bettwäsche wechselte, ihr widerstrebend beim Anziehen half, Anja, die ihre Mutter kaum berühren mochte - Anja ist von einer merkwürdigen Gelassenheit, seit ihre Mutter kapituliert hat. Seit es ihr zu schwierig geworden ist, fremde Erwartungen zu erfüllen. Seit sie keine andere Lösung weiß als einfach zu sein, die sie ist.
 
„Und wie geht es mit deinem Mann?“ fragt die Mutter und hebt den tropfenden Kopf. „Wie heißt noch dein Mann?“
„Ach Mama,“ Anja holt ein Handtuch und rubbelt ihr das Haar. „Mein Mann heißt Frank. Erinnerst du dich an ihn?“
„Ich weiß nicht genau.“
„Es ist schwierig mit Frank.“
„Schlaft ihr noch zusammen?“
Solche direkten Fragen.
„Nein Mama. Seit Jahren nicht mehr.“
„Wie schade. Die körperliche Liebe kann wunderbar beglückend sein.“
Anja lacht knurrend: „Frank geht fremd. Ich habe keine Lust mehr auf ihn.“
„Ach,“ sagt die Mutter bekümmert, „Das ist aber sehr traurig.“
Anja knetet Schaumfestiger in das dünne Haar.
„Habt ihr Kinder?“
„Aber nein, Mama. Das weißt du doch.“
„Ich habe dich so gerne gestillt,“ sagt die Mutter, und ihre Augen funkeln, „Das war ein so schönes Gefühl. Wie ein erotischer Höhepunkt mit deinem Vater.“
Jäh erinnert sich Anja an Szenen, die ihr als kleines Mädchen peinlich gewesen waren. Vater und Mutter jagten übermütig durch die Wohnung, fielen kichernd übereinander her und schlossen sich im Schlafzimmer ein. Würdelos war das. Gar nicht, wie Eltern sein sollten.
 
Anja biegt die spärlichen Haarfäden mit der Rundbürste nach innen, föhnt von unten dagegen.
Wenn ich klug wäre, wenn ich meinen Mann nicht verlieren möchte, bin ich fügsam und schlafe mit ihm, ob ich will oder nicht. Sonst werde ich ihn verlieren. Wie meine Mutter ihren Mann verloren hat, den sie liebte. Mit dem sie nicht mehr schlafen konnte, als er fremdging.
Sie wickelt Strähne um Strähne um die Rundbürste und föhnt so lange, bis das Haar aufgeplustert um das Gesicht liegt.
„Augen zu.“ Sie sprüht Haarlack auf die Frisur, damit sie zumindest diesen Tag übersteht.
Da klingelt es an der Tür.
Es ist die Tochter des Nachbarn. Sie hält Anja verlegen einen Umschlag hin. „Das habe ich im Nachlass meines Vaters gefunden.“
Sie verschwindet rasch, als habe sie eine delikate Geheimbotschaft überbracht.
Ein Packen Fotos fällt aus dem Umschlag. Eine alte Frau mit verrutschtem Rock, mit geöffneter Bluse, mit welkem Brustansatz. Das Gesicht mal mädchenhaft strahlend, mal schüchtern kokett.
Schockiert blättert Anja die Fotos durch. Diese Frau, die sie so nicht kennt. Diese aufreizend lasziven Posen eines alten Körpers.
 
Anja geht ins Bad, führt die Mutter zurück ins Wohnzimmer, legt ihr das Heizkisssen auf den Leib, überreicht ihr streng die Fotos.
„Ach, das bin ja ich.“ Erstaunt betrachtet die Mutter ein Foto nach dem anderen. „Wer hat die von mir gemacht?
„Ich vermute Herbert, dein Nachbar.“
„Herbert? Der Name kommt mir bekannt vor.“
„Du hast erzählt, er hat dir immer beim Holzhacken und beim Heckenschneiden geholfen.“
„Ach der?“ Ihr Gesicht hellt sich auf, ihr Blick glüht: „Herbert. Ja, so hieß er. Aber wo ist er denn? Ich warte schon so lange auf ihn.“
„Aber Mama. Der ist doch gestorben. Kurz bevor du deinen Schlaganfall kriegtest.“
„Ach. Er lebt gar nicht mehr?“
„Aber nein, Mama. Das weißt du doch.“
Ihr Gesicht zieht sich dunkel zusammen vor tiefschmerzlicher Enttäuschung. „Ach, er lebt gar nicht mehr.“ Ihr Blick wird flau, sie senkt die Lider, senkt die Stimme: „Und ich habe immer gedacht, gleich kommt er zur Tür herein. Jeden Tag habe ich gewartet und gedacht: gleich kommt er.“
Anja fühlt sich schlecht. „Mama, ich mach uns einen Pfefferminztee.“
Die Mutter, die alles sofort vergisst, widerholt beharrlich und grenzenlos kummervoll: „Ach, er ist tot. Deshalb kommt er nicht. Da habe ich ja ganz umsonst gewartet. Da habe ich ja gar nichts mehr, auf das ich mich freuen kann. Da weiß ich gar nicht mehr, warum ich noch weiterleben soll. Hatte er nicht auch einen Schlaganfall?“
„Ja, Mama.“
„Und ich habe immer gedacht, wenn er kommt, dann können wir über den Schlaganfall reden. Das verbindet uns doch. Aber er ist tot. Ach. Er ist tot.“
Und ihr Gesicht hat etwas so Trostloses, etwas so furchtbar ungeschützt Enttäuschtes, dass es Anja ins Herz schneidet.
„Ich mach dir was zu essen. Du hast bestimmt Hunger.“
Aber unentwegt widerholt die Mutter: „Dann habe ich ja gar keinen Grund mehr zu leben. Ich habe doch immer auf ihn gewartet.“
 
Ja, denkt Anja. Auch ich warte. Aber Frank lebt. Was ist schlimmer, tot oder untreu. Auf was warte ich. Auf das Leben.
 
Sie setzt sich neben die Mutter in den Sessel und drückt die Fernbedienung.
Da ist es, das Leben. Das tobt und schreit.
 
 
(Aus: „Damit ich dich besser küssen kann“)
 
 

Bis nur Meer übrig bleibt und Sand

 
Nachmittags, wenn die Sonne sich gesenkt und die Hitze nachgelassen hat, schlendert Maria den glitzernden Saum des Meeres entlang, lässt die nackten Füße vom Wasser liebkosen, der leichte Wind streicht ihr zärtlich durchs Haar. Ihr Blick zieht übers Meer, dann über den weiten Strand, der sie begleitet, bunt gesprenkelt mit Sonnenschirmen, Badetüchern, bis der Strand Schritt für Schritt zur unberührten Wildnis wird.
Wenn sie so dem Horizont entgegenstreunt, taucht irgendwann das rote Handtuch auf, verloren in der Wüste. Und das Lächeln zu ihr hoch.
Jedes Mal tändelt sie noch ein Stück auf der Trennungslinie zwischen Wasser und Land, kehrt um, wieder das Lächeln, schon fast vertraut, und dann zurück zum bunt gefleckten Strand, zurück zu den Menschen, zurück ins Hotel.
Wie einfach ist es, denkt sie, glücklich zu sein.
Sie sitzt auf ihrem kleinen Balkon und schaut der Sonne zu, wie sie sich immer eiliger dem Horizont nähert, ihn berührt und schließlich glühend rot im Wasser versinkt.
Am Morgen, wenn die Sonne sich von neuem erhoben hat, gleißend weiß, trinkt sie ihren Kaffee unterm kühlenden Blätterdach, palavert mit dem Kellner, dem Wirt, der Familie am Nachbartisch, und nachmittags macht sie sich auf wie die Tage zuvor, hinaus in die unschuldige Ödnis.
Da liegt er auf seinem roten Handtuch, sein Lächeln hat auf ihr Lächeln gewartet, sie schlendert vorbei, kehrt früher um als sonst, sieht ihn, wie er, die Ellbogen nach hinten gestützt, das Gesicht ihr zuwendet. Etwas Schmerzliches schwimmt in seinen Augen, liegt auf seinen lächelnden Lippen.
Guten Tag, schöne Frau, sagt er mit einer sanften Stimme, und sie bleibt stehen.
Da zieht er jäh die Beine an, springt auf die Füße, packt ihre Handgelenke und stößt ihren Körper in den Sand. Sein Atem bläst ihr warm ins Gesicht.
Durch die Schädeldecke schießt sie aus sich heraus in den weit gespannten Himmel und schaut von oben auf die zwei hinunter, wie sie ringen, wie sein breiter Rücken ihr zierliches Körperchen niederdrückt, bis es aufhört zu zappeln, wie er sich in sie hineinschiebt, wie er auf ihr arbeitet und wie er schließlich mit einem jubelnden Schrei auf sie niederfällt.
Nun spürt sie sein Gewicht. Nun spürt sie ihr Herz gegen seines rasen.
Sie ist so erschöpft, dass sie ihn noch einen Moment auf sich liegen lässt.
Als sie ihn von sich wegschieben will, gibt er gleich nach, lässt sich beiseite rollen.
Sie steht auf, zieht ihren Bikini zurecht und schlägt sich mit der flachen Hand über die Haut, um den Sand loszuwerden. Dann schaut sie auf ihn hinunter, wie er rücklings auf seinem roten Handtuch liegt, die Hände im Nacken verschränkt.
Warum haben Sie das gemacht? fragt sie hasserfüllt.
Er schaut sie von unten herauf an. Du sahst so glücklich aus, sagt er. Ich wollte auch glücklich sein.
 
 
(Aus: „Verführe mich“)
 
 


Der Frankfurter Osthafen – eine nostalgische Hymne

Spaziergang am 30.8.2007
 
Es gibt die Liebhaber des Morbiden, Bröckelnden, die in jedem heruntergekommenem Haus eine Seele wittern.
Und es gibt diejenigen, die den zartesten Hauch Patina umgehend mit Essigreiniger entfernen möchten.
Sie ahnen schon: ich gehöre zur ersten Sorte.
Ich begeistere mich für blätternde Farbe, abgestoßene Kanten, schiefgewetzte Treppen - und natürlich für die verrotteten Industrieanlagen am Osthafen bei mir um die Ecke.
Es ist ein warmer Spätsommertag. Ich balanciere über Schienen, springe von Bahnschwelle zu Bahnschwelle.
Rostige Reste von Industrieschrott. Überwucherte Mauerfundamente. Mannsgroße Bündel gelber Königskerzen, die langsam verblühen.
Seit Jahren erkundige ich das Gelände und jammere – wie alle Romantiker - über die Modernisierung unserer Welt.
Wenn Sie ähnlich geartet sind wie ich: machen Sie sich möglichst bald auf, denn diese Mischung aus Wildnis und musealen Resten einer Vorkriegsindustrie wird es dort nicht mehr lange geben. Neue Firmen haben sich bereits niedergelassen mit ihren glatten Fassaden, asphaltierten Straßen. Die Inseln bemooster Flächen zwischen den Schienensträngen verschwinden. Der Fußweg zum Schwedlersee ist kein Abenteuer mehr.
Auch die Europäische Zentralbank wirft längst ihre Schatten kühler Gepflegtheit, eleganter Neutralität über das Mainufer.
Die unordentliche Natur wird gestutzt, der blühende Dschungel niedergewalzt, adrette Platanen - alle gleich groß und im gleichen Abstand gepflanzt - säumen den neu gepflasterten Weg: ich laufe durch meinen gepflegten Garten am Fluss.
Nein, hässlich ist das Neue keineswegs. Es ist sogar praktisch, wie uns das große Schild „Liegewiese“ mit durchkreuztem Hund, Grill und Ball erläutert. Ich kann nun also auf dem geschorenen Rasen Zeitung lesen oder, beschattet von Baumkronen, auf Bänken sitzen und den futuristischen Techno-Kinderspielplatz anstaunen , den ich zunächst für eine Ansammlung seltsamer Trimm-Dich-Geräte gehalten habe.
Dennoch: wir Romantiker leiden, wenn ein Angestellter des Gartenbauamtes beginnt, den mit Natursteinen befestigen Hang von allem Grün zu säubern.
„Halt!“ schreie ich spontan, übertöne sogar den Lärm der Spezialreinigungsmaschine, und der grüngekleidete Mann hält inne. „Nicht die Königskerzen!“ rufe ich, „Jeden morgen beim Joggen freue ich mich über alles, was hier wächst und blüht.“
„Das ist doch nur Unkraut!“ murrt der Mann, geht aber nun zum Mähen des Rasens über. „Morgen mache ich weiter.“ droht er.
Er kommt nicht wieder. Bis heute grünt es zwischen den Ritzen der Steine. Ein Überraschungserfolg.
Oben auf der Anhöhe breitet sich eine weite, brachliegende Ebene bis zur Großmarkthalle aus, bestanden mit einzelnen Büschen und Bäumchen, zerschnitten durch einen hohen Drahtzaun, der das künftige EZB-Gelände markiert.
So könnte alles bleiben, nur ohne Zaun, denke ich, und sich allmählich zum Naturschutzgebiet entwickeln. Dichte hohe Schmetterlingssträucher wuchern den Zaun entlang, als habe man sie angepflanzt. Zwischen Bahnschienen bilden sich Biotope: Johanneskraut, Schafgarbe, Disteln, Schöllkraut, Natterkopf, Holunder, Brombeere, Brennessel, sowie zahllose buschige Bäumchen, die – wenn ich die herzförmigen Blätter richtig identifiziere – einmal Birken werden wollen. Sogar oben auf dem Pfosten der Eisenbahnbrücke wachsen sie.
Die Großmarkthalle wäre das ideale Kulturzentrum, fantasiere ich wehmütig, während ich, wie so oft, bewundernd am Zaun stehe. Was für ein Schmuckstück, dieses Gebäude, wie es breit und altehrwürdig am Ufer des Main lagert. Die Annexbauten rechts und links, die abgerissen werden sollen, könnten herrliche Ateliers beherbergen. Die Halle ließe sich aufteilen in Konzertsaal, Theaterbühne und Galerie. Außerdem gäbe es Proberäume für Musiker und Theaterleute. Und natürlich gut isolierte Zimmer für Autoren, die in Ruhe ihren aktuellen Roman fertigstellen wollen. Draußen, im weiträumigen Garten, einer gepflegten Wildnis, könnten sich die Künstler entspannen.
Aus schönen alten Gebäuden mache ich immer gleich Kulturzentren.
 
Das liebenswürdig improvisierte „Pflasterstrand-Cafe“ mit seinem hochkarätigen Blick auf die Skyline würde natürlich bleiben, wenn ich die Stadtplanung in die Hand nähme. Es würde nicht, wie vorgesehen, einem gestylten „Riverside-Cafe“ Platz machen. Wir Gäste könnten weiterhin, ein Kissen im Rücken, auf einem der hölzernen Anhängerkarren lagern, die hier zu gemütlichen Sitzgelegenheiten umfunktioniert sind. Mit ihren verblassten Aufschriften wie „Adria“ oder „Fink Frucht“ erinnern sie an die Anfangszeiten der Goßmarkthalle um 1928, als sie anfing, ein lebhafter internationaler Gemüseumschlagplatz zu werden.
Das „Pflasterstrand-Cafe “ ist das beliebteste und originellste Cafe in ganz Frankfurt - warum geht eigentlich jeder davon aus, dass die Bänker ein zweites „Nizza“ wollen? Ich würde allerdings einen Wintergarten anbauen – auch wenn die sympathischen Betreiber an kalten Sonnentagen immer einen Stapel Wolldecken für ihre Gäste bereithalten, wie auch Plastikmäntel gegen plötzliche Regengüsse.
Aber leider können wir Romantiker, wir Nostalgiker, wir Schwärmer, die wir das lebendige Wuchern des Unkrauts so sehr lieben und das Bröckeln alten Mauerwerks – leider können wir nicht mehr lange schwelgen im Dickicht der Brombeerbüsche.
Die selbstgebastelten Hütten der Obdachlosen – kleine unbeachtete Kunstwerke aus Abfall, Brettern und Schrott in exclusiver Lage - haben schon vor Jahren den noblen Wohnquadern Platz gemacht. Den gleichen noblen Wohnquadern wie im Hamburger Hafen. Mit vermutlich denselben Gartenanlagen voller künstlich zusammengestellter Exoten, die einfach keine Pflanzen-Einheit bilden wollen.
Doch genug der Klagen, denen wir Romantiker uns so gerne hingeben!
Wenn ich also realistischerweise davon ausgehe, dass die Dinge nicht bleiben wie sie sind, dass die wilde Natur der Stadtplanung immer mehr weichen muss wie überall - außer vielleicht in Berlin mit seinen riesigen, noch immer überwucherten Trümmergrundstücken - dann fantasiere ich mal in die Gegenrichtung: Nett wäre ein Strandbad an der Weseler Werft, direkt unterhalb des großen Platzes, wo im Sommer die Kulturzelte aufgebaut werden. Oder, falls beides zu sehr miteinander konkurriert – vielleicht weiter hinten, zwischen Deutschherrenbrücke (was für ein Name!) und Honsellbrücke. Hier breitet sich eine riesige sandige Fläche aus, die – bestanden von einem Wald üppiger Schmetterlingssträucher – nur darauf wartet, bebaut zu werden. Wäre das nicht ein passender neuer Platz für den Pflasterstrand?? Und gleich daneben der Eingang zu dem im Main schwimmenden Schwimmbad?? Mit Liegewiese??
Der Luxus-Blick auf Frankfurts Skyline wäre zwar verloren – aber dafür gäbe es den auch nicht zu verachtenden Blick auf das jenseitige Mainufer mit seinen alten Bäumen. Den hässlichen flachen Industriebau an der Nordseite hätte man im Rücken.
Das „Cafe King“ in der Honsellbrücke auf der anderen Seite des Schwimmbades könnte man ebenfalls ausbauen und winterfest machen. Leider würde der Verkehrslärm durch die geplante Brückenverlängerung verstärkt. Ein kleiner Wehrmutstropfen.
Aber ein Schwimmbad zwischen zwei originellen Cafes? Na, Ihr Stadtplaner, was meint Ihr dazu???
 
Ich schlendere über die Schienen. Hier muss ein Schrottplatz gewesen sein, überall blitzen kleine bizarr geformte Metallteile. Eine Freundin sucht hier regelmäßig nach verrostetem Metall, das sie zu originellem Schmuck verarbeitet.
Auf den niedrigen Kaimauern sitzen Möwen. Der kühle Geruch des Wassers weht zu mir herüber. Die Luft fühlt sich herbstlich an, trotz der Sonne.